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     Xiao Wu     Chengdu, V.R. China 2007
 

Xiao Wu

I
n Chengdu stellen wir die Schlussszene des Filmes Xiao Wu von Jia Zhang Ke (1997) nach:

Der notorische Taschendieb Xiao Wu wird nach seiner Verhaftung von einem Polizisten
mit Handschellen an das Abspannseil eines Betonmasten geschlossen. Der Polizist
verlässt die Szene. Immer mehr Leute versammeln sich um den in der Hocke sitzenden
Protagonisten. Schließlich setzt der Abspann ein.


Wir besorgen uns Handschellen und suchen einen, der Filmszene ähnlichen Ort.
Sylvia schließt mich an, macht ein Foto und geht dann mit den Schlüsseln weg.

Wie im Film versammeln sich immer mehr Leute, darunter viele Kinder, die gerade von der
Schule kommen. Immer enger schließt sich der Kreis der Schaulustigen; ein dichtes Gedränge
entsteht. Da ich, wie "Xiao Wu", die ganze Zeit nach unten schaue, sehe ich nur noch Schuhe.
Mehrere Personen sprechen mich auf chinesisch an. Ein junger Mann setzt sich auf Augenhöhe
zu mir in die Hocke. Auf Englisch sage ich, dass ein Freund mich später losschließen werde und
alle in Ordnung sei. Da er mich nicht verstehen kann, geht der weg, um bald darauf mit einer
jungen Frau, die etwas Englisch spricht, zurückzukommen. "Can I help you?", "What happened?",
"You want to make phonecall?", "I call 110, yes?".

"Don´t worry", sage ich, "my friend will come later". Sie geht weg und bringt mir etwas zu
trinken. Durch die Menschenmenge höre ich gedämpftes Autogehupe, die Straße um mich
scheint bereits blockiert zu sein. Mein Blick hängt sich an eine der roten Cordsamt-Pantoffeln
eines Mannes, auf welche die Buchstaben USA gestickt sind.
Die Kinder schauen mich an wie ein gefangenes Tier und ich frage mich, was für eine Geschichte
in ihrem Kopf entsteht. Einige von ihnen fangen an die Handschellen zu befühlen. Der jungen Mann
vom Anfang wischt die Rostpartikel von meiner Hand, welche sich durch das Reiben der Handschellen
vom Anker der Abspannung gelöst haben. Eines der Kinder sagt: "Good morning teacher!"

Wie Xiao Wu, der Antiheld, versuche ich allen Fragen und Blicken auszuweichen, vermeide jede
direkte Kommunikation.




Nach etwa einer dreiviertel Stunde kämpft sich ein Wachmann in grauer Uniform durch die Menge
und zieht nach einiger Zeit einen Schlüsselbund aus der Tasche, an dem sich ein für chinesische
Handschellen passender Schlüssel befindet. Im selben Moment kommen zwei Polizisten in schwarzer
Uniform, woraufhin der Wachmann seinen Schlüsselbund schnell wieder einsteckt. Ein Schlagstock
baumelt vor meinem Gesicht.
Einer der Polizisten schreit in die Menge dass sie sich auflösen möge und weist den Wachmann an,
mich los zu schließen. Dieser verliert, als er sich zu mir herunterbeugt, seine Zigarette, kann die
Handschellen aber nicht öffnen. Der Polizist schreit wieder in die Menge, einige Leute weichen
erschrocken zurück. Dann holt er seinen eigenen Schlüssel aus der Tasche und schließt mich los.

Als ich aufstehe, sehe ich, dass sich etwa 200 Menschen um die Szene versammelt haben. Der Polizist
nimmt die Handschellen, deren Verkauf an Zivilpersonen in China nicht erlaubt ist, an sich. Ich sage
"thank you very much" und gehe weg, ohne mich nochmals umzusehen.