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Xiao
Wu
In Chengdu stellen wir die Schlussszene des Filmes Xiao Wu von Jia
Zhang Ke (1997) nach:
Der notorische Taschendieb Xiao Wu wird nach seiner Verhaftung von
einem Polizisten
mit Handschellen an das Abspannseil eines Betonmasten geschlossen. Der Polizist
verlässt die Szene. Immer mehr Leute versammeln sich um den in der Hocke
sitzenden
Protagonisten. Schließlich setzt der Abspann ein.
Wir besorgen uns Handschellen und suchen einen, der Filmszene ähnlichen
Ort.
Sylvia schließt mich an, macht ein Foto und geht dann mit den Schlüsseln
weg.
Wie im Film versammeln sich immer mehr Leute, darunter viele Kinder, die gerade
von der
Schule kommen. Immer enger schließt sich der Kreis der Schaulustigen;
ein dichtes Gedränge
entsteht. Da ich, wie "Xiao Wu", die ganze Zeit nach unten schaue,
sehe ich nur noch Schuhe.
Mehrere Personen sprechen mich auf chinesisch an. Ein junger Mann setzt sich
auf Augenhöhe
zu mir in die Hocke. Auf Englisch sage ich, dass ein Freund mich später
losschließen werde und
alle in Ordnung sei. Da er mich nicht verstehen kann, geht der weg, um bald
darauf mit einer
jungen Frau, die etwas Englisch spricht, zurückzukommen. "Can I
help you?", "What happened?",
"You want to make phonecall?", "I call 110, yes?".
"Don´t worry", sage ich, "my friend will come later".
Sie geht weg und bringt mir etwas zu
trinken. Durch die Menschenmenge höre ich gedämpftes Autogehupe,
die Straße um mich
scheint bereits blockiert zu sein. Mein Blick hängt sich an eine der
roten Cordsamt-Pantoffeln
eines Mannes, auf welche die Buchstaben USA gestickt sind.
Die Kinder schauen mich an wie ein gefangenes Tier und ich frage mich, was
für eine Geschichte
in ihrem Kopf entsteht. Einige von ihnen fangen an die Handschellen zu befühlen.
Der jungen Mann
vom Anfang wischt die Rostpartikel von meiner Hand, welche sich durch das
Reiben der Handschellen
vom Anker der Abspannung gelöst haben. Eines der Kinder sagt: "Good
morning teacher!"
Wie Xiao Wu, der Antiheld, versuche ich allen Fragen und Blicken
auszuweichen, vermeide jede
direkte Kommunikation.
Nach etwa einer dreiviertel Stunde kämpft sich ein Wachmann in grauer
Uniform durch die Menge
und zieht nach einiger Zeit einen Schlüsselbund aus der Tasche, an dem
sich ein für chinesische
Handschellen passender Schlüssel befindet. Im selben Moment kommen zwei
Polizisten in schwarzer
Uniform, woraufhin der Wachmann seinen Schlüsselbund schnell wieder einsteckt.
Ein Schlagstock
baumelt vor meinem Gesicht.
Einer der Polizisten schreit in die Menge dass sie sich auflösen möge
und weist den Wachmann an,
mich los zu schließen. Dieser verliert, als er sich zu mir herunterbeugt,
seine Zigarette, kann die
Handschellen aber nicht öffnen. Der Polizist schreit wieder in die Menge,
einige Leute weichen
erschrocken zurück. Dann holt er seinen eigenen Schlüssel aus der
Tasche und schließt mich los.
Als ich aufstehe, sehe ich, dass sich etwa 200 Menschen um die Szene versammelt
haben. Der Polizist
nimmt die Handschellen, deren Verkauf an Zivilpersonen in China nicht erlaubt
ist, an sich. Ich sage
"thank you very much" und gehe weg, ohne mich nochmals umzusehen.
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