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Occupy Wall Street? Geh erst mal zur Gemeinderatssitzung!    Linz 2012
 
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Occupy Wall Street? Geh erst mal zur Gemeinderatssitzung!


"Democracy is sometimes a little bit difficult."

Diese Worte entfuhren dem Stuttgarter Oberbürgermeister Dr. Wolfgang Schuster bei der Begrüßung seiner internationalen Ehrengäste anlässlich der Eröffnung des 'Stuttgarter Weindorfs' 2010. Es war der Tag des Abrissbeginns des denkmalgeschützten Hauptbahnhofs und vor den Absperrungen zur Veranstaltung versuchten Polizeieinheiten die aufgebrachte Bürgerschaft in Schach zu halten, welche mit ihren wütenden und verzweifelten Protestchören das Stadtoberhaupt aus dem Konzept brachte.

Mit der Durchsetzung des Städtebauprojekts 'Stuttgart 21', welches bereits Anfang der 90er Jahre in klassischer Hinterzimmer-Manier ausgeheckt und vom Gemeinderat im Schnellverfahren 'legitimiert' wurde, geriet Schuster in Konfrontation mit einer zunehmend informierten und organisierten Zivilgesellschaft, die ihr Recht auf Transparenz und Mitsprache einfordert.

Nicht zuletzt aus den ernüchternden Erfahrungen um 'Stuttgart 21' sind wir an den Prozessen kommunaler Entscheidungsfindung interessiert und haben gleich zu Beginn unseres Aufenthaltes in Linz eine Sitzung des Gemeinderats besucht.

Oö GemO, §53: "Die Sitzungen des Gemeinderates sind öffentlich."

Auch wenn Gemeinderatssitzungen meist routiniert und unspektakulär verlaufen, sind sie in ihren Konsequenzen konstituierend. Der öffentlich zugängliche Raum, in dem sie statt finden, ist der Ort, an dem die gewählten VolksvertreterInnen im Sinne des Allgemeinwohls Beschlüsse fassen und die Verwendung von Steuergeldern verhandeln. Hier wird nicht nur das gesellschaftspolitische, sondern vor allem das städtebauliche Erscheinungsbild einer Kommune maßgeblich gestaltet.

Es ist die letzte Sitzung vor der Sommerpause und die Zuschauertribüne ist nur spärlich besetzt. Gegen Ende der über 5-stündigen Veranstaltung, die von der Diskussion über den defizitären Rechnungsabschluss 2011 dominiert wird, sind wir die einzigen BeobachterInnen.
Ganz anders die Situation während des Linzer Pflasterspektakels, wo wegen schlechter Witterung einige Darbietungen in ebenjenen Sitzungssaal verlegt werden. Die Räumlichkeiten sind brechend voll, im Saal wie auf der Zuschauertribüne ist kein Durchkommen mehr. Die Bürgerinnen und Bürger applaudieren und werfen am Ende der Show den Gauklern und Jongleuren ihr Kleingeld in den Hut!

"Grundfeste des freien Staates ist die freie Gemeinde"
Provisorisches Gemeindegesetz vom 17. März 1849

Die Forderungen der Bürgerschaft nach politischer Mitbestimmung während der Revolution von 1848 prägten nachhaltig die politische Kultur in Mitteleuropa und führten langfristig zur gesetzlichen Verankerung der ersten Volksvertretungen.
In unserer Epoche des schleichenden Demokratierückbaus und zunehmenden Lobbyismus´ ist es höchste Zeit, sich diese hart erkämpften Errungenschaften zu vergegenwärtigen. Teilnahme, auch in Form von Präsenz und Zuhörerschaft, ist Grundlage unserer demokratisch verfassten Gesellschaften. Die lauter werdenden Forderungen nach Bürgerbeteiligung und Mitspracherecht zeigen, wie sehr politische Entscheidungsprozesse einer direkten Legitimation durch den Souverän, die Bevölkerung, bedürfen.

Es wird nicht ohne Folgen bleiben, wenn sich mehr Menschen den Raum und die Zeit nehmen, den Verhandlungen über die Gestaltung ihres unmittelbaren Lebensumfeldes physisch beizuwohnen.
Für die Sitzung des Linzer Gemeinderates am 18. Oktober im alten Rathaus wünschen wir uns eine volle Zuschauertribüne!


Sylvia Winkler, Stephan Köperl
Linz 2012

 

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